Schön für die ARD: Beim Rundfunk dürfen uns Maschinen endlich in Eigenregie verwalten. Brisant für die ARD: Der Beitragsservice arbeitet bereits seit Jahren »vollständig automatisiert«. Ein Paragraf erlaubt das jetzt, aber der gilt eben erst seit Juni. Millionen von Vollstreckungen waren damit angreifbar, und ein Anwalt siegte in der Sache

Wir alle kennen dieses Gefühl: verloren in der Warteschleife. Spätestens, wenn die Computerstimme zum zehnten Mal überfreundlich wiederholt: »Entschuldigung, ich habe Sie nicht verstanden«, dann geben wir zermürbt auf.
Der Kontakt mit dem Beitragsservice ist im Ton nicht so freundlich, endet oft aber genauso frustrierend: Irgendwann kapituliert der Mensch vor der Maschine. Wir wollen Antworten, von der Ex-GEZ kommen Textbausteine. Die Briefe sind gefüllt mit den immergleichen und oft inhaltsleeren Sätzen.
Wenn es um die acht Milliarden Euro für ARD und ZDF geht, dreht der Beitragsservice in Köln aber erst so richtig auf: Eine millionenfache Flut von Rundfunkbescheiden ergießt sich über das ganze Land – Jahr für Jahr.
Wer einen Blick auf diese Papiere riskiert, wundert sich bereits über das Datum: Immer öfter halten wir einen Bescheid vom Sonntag in den Händen. An einem Sonntag sitzt aber kein Mensch im Büro. Wer überprüft dann noch, ob das, was aus dem Drucker kommt, überhaupt Sinn ergibt? Niemand. Bei der Ex-GEZ sind sich die Maschinen selbst genug. Sie verwalten uns, sie fordern das Geld von uns.
Der Hessische Rundfunk streicht vor Gericht die Segel
Wir bemerken nicht, wie viel künstliche Intelligenz hier schon am Werk ist. Die ARD treibt ihr Massenverfahren immer weiter voran – vielleicht zu weit. Das zeigt ein Fall, der jetzt am Verwaltungsgericht Frankfurt verhandelt wurde:
Eine Frau in Hessen wehrt sich Anfang 2020 gegen die Eintreibung des Rundfunkbeitrags. Wie so viele vor ihr muss auch sie erkennen: Wo der gute Wille der Menschen schwindet, da werden Zwang und Paragrafen immer engmaschiger verwoben. Auch ihre Widersprüche finden kein Gehör. Sie bittet einen Anwalt um Hilfe.
Durch die Arbeit eines Anwalts entstehen Kosten: Thorsten Bölck von der Kanzlei Quickborn empfiehlt der Mandantin, binnen eines Monats Widerspruch gegen die Bescheide einzulegen. Das tut sie im Februar und noch einmal im April 2020. Im Mai kommt es dann zum Prozess.
Bölck zeigt, wo die Maschine beim Berechnen der Rundfunkbeiträge irrt. Der Anwalt tut noch etwas: Er schaut sich den Paragrafen 35a des Hessischen Verwaltungsverfahrensgesetzes an: Ein »Verwaltungsakt« – das ist ein solcher Bescheid – »kann vollständig durch automatische Einrichtungen erlassen werden, sofern dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist«.
Bölck verweist auf den Paragrafen 10a im Rundfunkbeitragsstaatsvertrag: Dank dem dürfen beim Rundfunk die Bescheide tatsächlich »vollständig automatisiert« aus der Maschine kommen. Ein Detail bringt aber alles ins Wanken: Dieser Paragraf 10a tritt erst im Juni 2020 in Kraft – auch in Hessen. Der Fall wird im Mai verhandelt, die Bescheide der Dame sind noch älter. Sie wurden wie Millionen andere noch ohne diese Rechtsvorschrift erlassen.
Ein Schuss, ein Treffer:
Die Lücke in der Paragrafenmauer
Der Anwalt muss nicht einmal zur Verhandlung nach Frankfurt reisen. Die Klageschrift genügt: Der Hessische Rundfunk (HR) gibt Anfang Juni auf. Die Rundfunkanstalt gibt dem Widerspruch vom Februar und vom April 2020 statt:
Diese Bescheide aus der Maschine existieren für die Mandantin nicht mehr, damit gibt es im Moment nichts, was daraus vollstreckt werden könnte. Auch die Kosten für den Prozess will der Sender übernehmen. Es sieht nach einem Sieg auf ganzer Linie aus, doch der HR handelt hier sehr geschickt:
Er äußert sich nicht, warum er dem Widerspruch stattgibt. Der HR gibt zwar im Einzelfall klein bei, verhindert so aber auch ein Gerichtsurteil, auf dass sich andere eindeutig berufen könnten.
Die Belange des Rundfunks
& die Interessen der Bürger
Beim Rundfunk agieren immer öfter Maschinen autonom. Sie entscheiden dabei über das Schicksal vieler Menschen – ob wir am Ende etwa in einer Vollstreckung landen oder nicht. Das ist schon seit Jahren der Normalfall, obwohl es diese Rechtsvorschrift dem Rundfunk erst seit Juni 2020 gestattet. Es geht um Milliarden, bald soll die Zwangsabgabe wieder erhöht werden, weil es nie genug ist, und nun halten nicht einmal mehr die Gesetze Schritt. Wie kann das sein?
Unsere Gerichtsposse hat eine bizarre Vorgeschichte: Paragraf 10a wurde eigens und erst im Nachhinein für die ARD geschrieben. Selbst die Politik war überrascht und hat damit das reibungslose Funktionieren der Kölner Inkasso-Maschine abgesichert. Was nicht passte, wurde eben passend gemacht. Blicken wir auf den Lobbyismus des Rundfunks; das passiert vor zwei Jahren in den Hinterzimmern der Macht:
Auch ohne Paragraf 10a – Sonntagsbescheide aus der Maschine
Hermann Eicher ist der Justiziar des Südwestrundfunks (SWR) und in der ARD federführend für den Rundfunkbeitrag. Am 21. Februar 2018 findet ein Treffen in Hannover statt. Eicher spricht dort, die Rundfunkreferenten der Bundesländer sind da und hören zu. Eicher »informiert« über »das bei den Anstalten übliche Verfahren des Erlassens automatisierter Bescheide«. Dieses »Verfahren« solle »transparent normiert« werden. Es soll also Gesetz werden.
Die Staatskanzlei des Landes Brandenburg erklärt: In den Bundesländern wird das vollständig automatisierte Erlassen solcher Bescheide »uneinheitlich« umgesetzt. »Angesichts [...] daraus möglicherweise resultierende[r] Rechtsstreitigkeiten empfahl Herr Dr. Eicher eine zügige Anpassung des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags.«
»Rechtsstreitigkeiten«: Was bleibt sonst noch unter dem Radar?
Die ARD weiß damals, dass ihre Praxis noch nicht »transparent normiert« ist. Muss sie ihre Praxis dann nicht ruhen lassen? Muss die Politik ihre Bürger nicht darüber aufklären? Es sind über 40 Millionen Menschen vom Rundfunkbeitrag betroffen.
Viele hätten also seit Jahren gegen die Anstalten einen Prozess führen und auch gewinnen können – wenn es die Menschen nur gewusst hätten –, aber niemand hat es ihnen gesagt. Die »möglichen Rechtsstreitigkeiten« für die ARD bleiben unter dem Radar.
Den meisten Menschen entgeht auch das: Die Politik erfüllt der ARD ihren Wunsch. Der nagelneue Paragraf 10a passiert 2019 leise und störungsfrei alle Landesparlamente. Er erlaubt dem Rundfunk vom Juni 2020 an explizit Bescheide aus der Maschine.
Mehr als eine Paragrafen-Posse: Die Bescheide sind Grundlage für Millionen von Vollstreckungen
Die Paragrafen-Posse hat nicht nur eine bizarre Vorgeschichte, sie kann auch zur juristischen Tragödie werden: Allein in den vergangenen drei Jahren schob der Beitragsservice knapp 3,7 Millionen Mal die Zwangsvollstreckung an. Millionen Menschen wurden dabei in den behördlichen Schraubstock gespannt. Viele wurden mit Lohn-, Renten- oder Kontopfändungen überzogen. Viele wurden mit Haftbefehlen bedroht. Alle dürfen sich heute fragen: Ging es bei mir mit rechten Dingen zu?
Schließlich bilden diese Bescheide die Rechtsgrundlage. Mithilfe der Papiere setzt der Rundfunk fest, wie viel Beitrag wir ihm schulden. Wenn wir nicht zahlen, dann wird der Bescheid vollstreckt. Ist er aber rechtlich nicht einwandfrei – weil etwa in einem Bundesland Maschinen noch keine Bescheide schreiben durften –, dann war dieses Papier angreifbar, dann konnte es auch nicht mehr einfach so vollstreckt werden.
Was kann der Frankfurter Prozess verändern?
Der Anwalt Thorsten Bölck sieht weitreichende Konsequenzen: »Nun ist es aber so, dass in Hessen viele [Bescheide] des Hessischen Rundfunks vollstreckt werden. In allen diesen Fällen fehlt es an der gesetzlichen Voraussetzung für die Vollstreckung nach Paragraf 18 des Hessischen Verwaltungsvollstreckungsgesetzes, so dass alle zur Zeit durch die Vollstreckungsbehörden stattfindenden Maßnahmen rechtswidrig sind.«
Das gilt dann nicht nur für Hessen, sondern auch für die übrigen Länder: Sie schreiben jeweils ein eigenes Verwaltungsverfahrensgesetz, dass dann gleichwertig neben dem des Bundes steht und für die jeweilige Landesrundfunkanstalt maßgeblich ist. Hessen und Nordrhein-Westfalen haben den Paragrafen 35a. Er fordert eine Rechtsvorschrift für Maschinen-Bescheide. In Bremen und Bayern fehlt aber dieser Paragraf 35a. Sachsen und Niedersachsen leisten sich sogar nur ein Rumpfgesetz. Es wird ein Flickenteppich geknüpft.
In allen Ländern muss es aber einen Verwaltungsakt geben, der vollstreckt werden kann. Der Bescheid aus der Maschine gilt erst dann als Verwaltungsakt, wenn das »vollständig automatisierte Erlassen« per Gesetz erlaubt ist. Die ARD befürchtete »Rechtsstreitigkeiten«. Deshalb bat sie 2018 die Politik um einen Paragrafen, der eigens für den Rundfunk geschaffen wird.
Nun bringt ein Fall in Hessen doch noch ans Licht, was den Bürgern offenbar entgehen sollte: Ob die Anstalten auf diesen Prozess eingehen und wie die vielen Vollstreckten der ARD jeweils zu ihrem Recht kommen – das steht leider auf einem anderen Blatt. Allerdings werden im Moment Millionen alte Rundfunkbescheide aus den Jahren 2017, 2018 und 2019 vollstreckt.
Es stellt sich also eine berechtigte Frage: Ist das bloß ein Gerichtsprozess oder bereits ein Politikum: Wie weit werden die Interessen der Menschen überhaupt noch berücksichtigt, sobald die Belange des Rundfunks gefährdet sind? Das ist kein schöner Blick in die neue Welt des Beitragsservice.